Das Kinderdefizit im frühen Mittelalter – Realität oder Hypothese? : Zur Deutung demographischer Strukturen in Gräberfeldern

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Zitierfähiger Link (URI): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-11528
http://hdl.handle.net/10900/48569
Dokumentart: Dissertation
Erscheinungsdatum: 2004
Sprache: Deutsch
Fakultät: 7 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Fachbereich: Sonstige - Geowissenschaften
Gutachter: Conard, N.
Tag der mündl. Prüfung: 2004-01-30
DDC-Klassifikation: 900 - Geschichte
Schlagworte: Monte-Carlo-Simulation , Mittelalter , Kindersterblichkeit, Paläodemographie , Gräberfeld
Freie Schlagwörter: Paläodemographie , Kinderdefizit , Kindersterblichkeit , Monte-Carlo-Simulation , demographische Strukturen
paleodemography , child deficit , child mortality , Monte Carlo simulation - demographical structures
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Inhaltszusammenfassung:

Der Begriff des Kinderdefizits beschreibt die Differenz zwischen der Kindersterblichkeitsrate einer Epoche und der tatsächlichen Anzahl an Kinderbestattungen, die für diese Zeit archäologisch fassbar ist. Vor allem für das Frühmittelalter wird von einem Kinderdefizit ausgegangen. Auf der einen Seite steht die Annahme einer Kindersterblichkeitsrate für das Frühmittelalter von rund fünfzig Prozent. Auf der anderen Seite ergibt sich aber ein wesentlich geringerer Anteil an Kinderskeletten auf Bestattungsplätzen. Diese Arbeit stellt zum einen dar, dass es keinen Beleg dafür gibt, dass im Mittelalter die Hälfte aller Kinder starb. Die Hypothese einer entsprechend hohen Kindersterblichkeitsrate geht auf die Interpretation paläoanthropologischer Analysen von Gräberfeldern zurück. Allerdings gehen diese Untersuchungen davon aus, dass der Anteil an Kinderskeletten in Bezug auf die Gesamtzahl der Bestattungen bei rund fünfzig Prozent liegen sollte. Die Kindersterblichkeitsrate ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem Kinderanteil eines Gräberfeldes. Die Hypothese eines fünfzigprozentigen Kinderanteils wird allerdings durch die tatsächlichen Zahlenwerte nicht bestätigt. Die Vorgabe eines fünfzigprozentigen Kinderanteils in Gräberfeldern beruht im Wesentlichen auf Sterbetafeln und der Interpretation eines einzigen Gräberfeldes, das als repräsentativ angesehen wurde. Die Methodik der Sterbetafeln gerät jedoch immer stärker in die Kritik, da die theoretischen Grundlagen einem idealisierten demographischen Modell folgen und nicht der Realität. Auf der Basis eines alternativen Modells, das mit Hilfe verschiedener Parameter rechnerisch die Sterbewahrscheinlichkeit einer Person nachzeichnet, wurde mit Hilfe des Monte-Carlo-Verfahrens die Entwicklung von Gräberfeldern für verschiedene Modellpopulationen simuliert. Dabei wurde untersucht, wie verschiedene Faktoren das Anteilsverhältnis von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf einem Gräberfeld beeinflussen. So ergibt sich für die Entwicklung eines Bestattungsplatzes ein Grundmuster. So schwanken die Anteilswerte der Altersgruppen zu Beginn der Belegungszeit stark und pendeln sich dann auf einem stabilen Verhältniswert ein. Es zeigt sich zum Beispiel, dass die Fertilität einen stärkeren Einfluss auf die Zusammensetzung eines Gräberfeldes hat als die Mortalität. Der Wert der durchschnittlichen Lebenserwartung hat nur eine geringe Aussagekraft über die allgemeine Sterblichkeitsrate einer Gemeinschaft. Hingegen hat die Ausgangspopulation einen Einfluss auf die Stabilisierungsphase und den Kinderanteil. Außerdem ergeben sich keine verbindlichen Altersgruppenverhältnisse. Zudem zeigen die Simulationen eine sehr große Streubreite der Standardabweichung. Der Kinderanteil in Gräberfeldern wird somit von vielen Faktoren beeinflusst. Insgesamt ergibt sich damit, dass der Kinderanteil in einem Gräberfeld keinen Rückschluss auf die Kindersterblichkeit zulässt.

Abstract:

A deficiency of children in burial sites is defined as the difference between a supposed child mortality for a time period and the real number of skeletons of children found in burial sites after archaeological excavation. Such a deficiency of children has been claimed for early medieval times. A child mortality of about fifty percent has been assumed for these times, but few skeletons of children have been found in excavations of medieval graveyards. This thesis shows that there is no evidence for the claim of high child mortality in medieval times. In addition to an inconsistent definition of the age group of children, the hypothesis of a fifty percent child mortality is based on examinations in paleoanthropology. But in paleoanthropology it is supposed that the fraction of children present in burial places in medieval times should be around fifty percent. The child mortality rate is, however, not the same as the proportion of children expected in burial sites. The hypothesis of high child mortality in medieval times is therefore based on a misunderstanding of results in paleoanthropology. The assumption that children should make up fifty percent of burials is based on demographic life tables and the interpretation of a single burial site, regarded as representative. The use of life tables, however, is increasingly criticized because life tables are based on a idealized demographic model and do not mirror real life. On the basis of an alternative probabilistic model for mortality, this thesis simulates the evolution of burial site composition using the Monte Carlo method. The analysis examines how several factors influence the relative frequency of children and adults in burial site. In the simulations, the development of burial sites shows a typical pattern. There is a period in which the proportion of children and adults fluctuates strongly and then levels off to a constant ratio. This pattern is influenced by several factors. For example, fertility has a stronger influence on the ratio of adults and children than mortality. The level of life expectancy related to the life tables, however, has only a small influence on mortality. On the other hand, the composition of the starting population has a great influence on the time to equilibrium and the proportion of age groups, and the standard deviation between different simulations is extremely large. The proportion of children in burial sites is therefore influenced by many factors. These results lead to the conclusions that it is imposslible to infer anything about child mortality on the basis of the relative frequency of children in burial sites.

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