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Bei den spinozerebellären Ataxien (SCAs) 1, 2, 3 und 6 handelt es sich um seltene, autosomal-dominant vererbte, progressiv-degenerative Erkrankungen. Bei zwei Dritteln aller Menschen mit SCA treten Gangprobleme als erstes Symptom der Erkrankung auf. Gangprobleme und Gleichgewichtsstörungen werden von Menschen mit SCA als größte Einschränkung im Alltag wahrgenommen.
Es wird davon ausgegangen, dass sich ataxiespezifische Veränderungen der Motorik bereits Jahre vor der Manifestation der Ataxie entwickeln. Zum Zeitpunkt der Manifestation ist auf pathophysiologischer Ebene bereits ein irreversibler Neuronenverlust eingetreten. Daher bietet das Zeitfenster vor der Manifestation der Ataxie die Chance, durch den Einsatz von disease-modifying drugs den irreversiblen Neuronenverlust und die weitere Progression der Erkrankung zu verhindern. In präklinischen Studien konnten mit disease-modifying drugs bereits erste Erfolge erzielt werden. Verschiedene klinische Studien bezüglich dieser Thematik befinden sich in der Vorbereitung.
Grundlegend für die Entwicklung und Beurteilung des Therapieerfolgs der disease-modifying drugs ist die Identifizierung von Biomarkern zur objektiven Erfassung des Krankheitsverlaufs sowie von performance outcomes (PerfO) zur Erfassung von Aspekten, die für Personen mit SCA im Alltag relevant und bedeutungsvoll sind. Diese Alltagsrelevanz wird von der U.S. Food and Drug Administration für die Zulassung der PerfO gefordert. Bewegungsparameter erfüllen diese Anforderung, da sie motorischen Veränderungen erfassen, die von Menschen mit SCA als größte Alltagseinschränkung gewertet werden. Um Bewegungsparameter als PerfO verwenden zu können, ist die Kenntnis der natürlichen motorischen präataktischen und ataktischen longitudinalen Progression der SCAs 1, 2, 3 und 6 erforderlich.
In dieser Arbeit wurde daher eine standardisierte Bewegungsanalyse komplexer Gang- und Standübungen mit dem 3D Motion Capture System von VICON bei präataktischen und ataktischen Proband:innen über mehrere Jahre hinweg durchgeführt, mit gesunden Kontrollproband:innen verglichen und statistisch ausgewertet. Präataktische Proband:innen wurden als SCA-Mutationsträger:innen mit einem Score der Scale for the Assessment and Rating of Ataxia (SARA) < 3 definiert. Neben dem SARA erfolgte zusätzlich die Erfassung der neurologischen Skalen Inventory of Non-Ataxia Signs (INAS) und Spinocerebellar ataxia Functional Index (SCAFI). Sowohl die Gang- und Standparameter als auch die neurologischen Skalen wurden auf Korrelation mit dem erwarteten Erkrankungsbeginn (EDO) überprüft. Der EDO wurde nach dem Modell von Tezenas du Montcel et al. basierend auf der individuellen Anzahl an CAG-Triplett-Wiederholungen und dem SCA-Genotyp berechnet.
Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass motorische Veränderungen bei präataktischen Proband:innen besonders bei der Durchführung komplexer Gang- und Standübungen detektierbar werden. Daher wurden die Gang- und Standübungen in steigender Komplexität auf hartem Untergrund, mit geschlossenen Augen, auf einer Weichbodenmatte und mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte, durchgeführt.
Bei der Baseline-Untersuchung konnte die präataktische Gruppe von der gesunden Kontrollgruppe beim Romberg-Versuch, beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen und beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte unterschieden werden. Diese Unterscheidung zwischen den präataktischen Proband:innen und der gesunden Kontrollgruppe bei der Baseline-Untersuchung war durch den SARA, INAS und SCAFI nicht möglich. Dies spricht für eine niedrigere Sensitivität des SARA Scores im präataktischen Stadium und bestärkt die Notwendigkeit, PerfO für die präzisere Erfassung der motorischen longitudinalen Progression im präataktischen Stadium zu entwickeln.
Zudem war in der präataktischen und der ataktischen Gruppe eine signifikante Erhöhung der Körperschwankung bei steigender Komplexität der einzelnen Romberg-Versuche (Romberg-Versuch, Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen, Romberg-Versuch auf einer Weichbodenmatte und Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte) ersichtlich. Die signifikante Erhöhung der Körperschwankung bei steigender Komplexität zeigte sich ebenfalls für die Variabilität der Schrittzykluszeit beim Seiltänzergang auf hartem Untergrund und auf einer Weichbodenmatte. Dies zeigt, dass in Koordination, Haltung und Balance herausfordernde Bewegungen zu ausgeprägteren motorischen Veränderungen führen. Es eröffnet die Chance, minimale Bewegungsveränderungen im präataktischen Stadium durch komplexe Bewegungsabläufe sensitiver zu quantifizieren.
Für die Erfassung der motorischen longitudinalen Progression im präataktischen und ataktischen Stadium über mehrere Jahre wurde das Modell der linearen Regression verwendet. Anhand dieses Modells war in der präataktischen Gruppe die Darstellung der motorischen longitudinalen Progression beim Romberg-Versuch, beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte, bei der Variabilität der Schrittzykluszeit beim Seiltänzergang auf hartem Untergrund und auf einer Weichbodenmatte, bei der Variabilität der Schrittlänge beim Seiltänzergang auf einer Weichbodenmatte sowie bei der Körperschwankung beim Seiltänzergang auf hartem Untergrund und auf einer Weichbodenmatte möglich. In der ataktischen Gruppe war dies beim Romberg-Versuch, beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen, beim Romberg-Versuch auf einer Weichbodenmatte sowie beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte möglich.
Auf individueller Ebene konnten bei der präataktischen Gruppe signifikante Änderungen der longitudinalen Progression der Untersuchungen beim Romberg-Versuch, beim Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte, bei der Variabilität der Schrittzykluszeit beim Seiltänzergang auf einer Weichbodenmatte, bei der Variabilität der Schrittlänge beim Seiltänzergang auf hartem Untergrund und auf einer Weichbodenmatte sowie bei der Körperschwankung beim Seiltänzergang auf einer Weichbodenmatte festgestellt werden. In der ataktischen Gruppe konnte die Änderung der motorischen longitudinalen Progression auf individueller Ebene nicht dargestellt werden.
Durch die Romberg-Versuche und den Seiltänzergang war also die Quantifizierung von motorischen Änderungen für die präataktische und ataktische Gruppe sowie für die einzelnen Individuen der präataktischen Gruppe möglich.
Zudem konnte bei der präataktischen Gruppe in den meisten Fällen eine signifikante negative Korrelation zwischen den Jahren bis zum EDO und dem SARA Score, dem Romberg-Versuch, dem Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen, dem Romberg-Versuch auf einer Weichbodenmatte und dem Romberg-Versuch mit geschlossenen Augen auf einer Weichbodenmatte nachgewiesen werden. Diese negative Korrelation verstärkte sich in den meisten Fällen mit Näherrücken des Krankheitsbeginns. Gleiches gilt für die Jahre bis zum EDO und die Variabilität der Schrittzykluszeit beim Seiltänzergang sowie die Körperschwankung beim Seiltänzergang auf einer Weichbodenmatte. Dies spricht dafür, dass das Näherrücken des Krankheitsbeginns zu zunehmenden motorischen Veränderungen bei den genannten Untersuchungen führte.
Zusammenfassend konnte in dieser Arbeit (1) die Unterscheidung zwischen präataktischen Proband:innen und der gesunden Kontrollgruppe anhand der Bewegungsanalyse gezeigt werden (2) zunehmende motorische Veränderungen präataktischer Proband:innen bei Zunahme der Komplexität der Bewegungen detektiert werden (3) die natürliche motorische longitudinale Progression präataktischer und ataktischer Proband:innen abgebildet werden sowie (4) eine negative Korrelation zwischen dem näher rückenden Krankheitsbeginn und den Bewegungsparametern nachgewiesen werden. Somit bilden diese Resultate eine Grundlage für die weitere Entwicklung von performance outcomes. |
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