Inhaltszusammenfassung:
Fragestellung: Die vorliegende Katamnesestudie untersuchte im Rahmen der Tübinger Adoleszenz-Rückfallstudie Delinquenz (TARD) soziale, psychiatrische und Tatcharakteristika im Hinblick auf die spätere kriminelle Entwicklung und Rückfälligkeit von jugendlichen und heranwachsenden Tötungsdelinquenten die im Zeitraum von 1950-1979 begutachtet wurden und identifizierte Merkmale, die mit einem erhöhten Rückfallrisiko einhergingen. Des weiteren verglich sie auffällige Merkmale direkt mit einer zeitlich späteren Gruppe jugendlicher Tötungsdelinquenten (1980-1991) die ebenfalls im Rahmen der TARD untersucht wurden.
Material und Methode: Auswertung und systematische Analyse mit Hilfe eines Auswertungsmanuals und der Basisdokumentation von 70 Gutachten aller jugendlicher und heranwachsender Tötungsdelinquenten, die von 1950-1979 in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen im Rahmen von Strafverfahren erstellt wurden. Zur Bestimmung der Rückfälligkeit dienten unbeschränkte Auskünfte aus dem Bundeszentralregister der Probanden, die ebenfalls anhand eines Fragebogens systematisch ausgewertet wurden.
Ergebnisse: Einschlägige Rückfälligkeit stellte eine extreme Ausnahme dar und fand sich nur in drei Fällen. Die allgemeine Rückfälligkeit korrelierte signifikant mit der Schulbildung in der Vorgeschichte. An psychiatrischen Störungen, die mit erhöhter Rückfälligkeit in Zusammenhang standen, konnten u.a. Störungen des Sozialverhaltens, Pubertätskrisen, Reifungsstörungen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch identifiziert werden. Dagegen traten manifeste Psychosen nur äußerst selten auf. Auch die ausgeprägte Geschlechtsabhängigkeit der Delinquenz wurde bestätigt. Im Vergleich mit der zeitlich späteren Gruppe jugendlicher Tötungsdelinquenten zeigten sich besonders im Hinblick auf die Rückfälligkeit, das Täteralter, die Intelligenz der Täter, der Frage der Schuldfähigkeit und in der gutachterlichen Prognose ähnliche Ergebnisse.
Diskussion: Die Ergebnisse belegten, dass die in der Literatur diskutierten umgebungsbedingten und internalen Faktoren auch in unserem Kollektiv mit erhöhter Rückfälligkeit in Zusammenhang standen. Ebenfalls bestätigt wurde, dass die einschlägige Rückfälligkeit nach Tötungsdelikten äußerst gering ist. Nur sehr wenige, bereits im Jugendalter Delinquente starteten eine kriminelle Karriere oder wurden zu Intensivtätern. Tendenziell waren die Raten von Gewaltstraftaten geringer als bei anderen Gruppen in unserer TARD. Die häufig geforderte Verschärfung des Jugendstrafrechts, mit dem Ziel einer Verringerung schwerster Delinquenz bei Jugendlichen ist angesichts unserer Ergebnisse nicht nachvollziehbar.